Marga Spiegel: Unterschied zwischen den Versionen
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Marga Spiegel wurde 1912 als Tochter von Siegmund Rothschild (1882–1938) und dessen Ehefrau Cilly (1888–1937; Geburtsname: Rosenstock) geboren und entstammte einer Landjudenfamilie aus Nordhessen [Anm. 1]. Ihre Kindheit verbrachte sie mit ihren Eltern und ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Johanna in dem hessischen Dorf Oberaula, wo ihre Großeltern eine Färberei besaßen und sie die Schule besuchte. Von 1920 bis 1922 ging Marga Rothschild in die Privatschule von Adele Dippel in Oberaula und wechselte 1924 auf ein Lyzeum in Hersfeld. | Marga Spiegel wurde 1912 als Tochter von Siegmund Rothschild (1882–1938) und dessen Ehefrau Cilly (1888–1937; Geburtsname: Rosenstock) geboren und entstammte einer Landjudenfamilie aus Nordhessen [Anm. 1]. Ihre Kindheit verbrachte sie mit ihren Eltern und ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Johanna in dem hessischen Dorf Oberaula, wo ihre Großeltern eine Färberei besaßen und sie die Schule besuchte. Von 1920 bis 1922 ging Marga Rothschild in die Privatschule von Adele Dippel in Oberaula und wechselte 1924 auf ein Lyzeum in Hersfeld. | ||
− | 1933, im Jahr der Machtergreifung der | + | 1933, im Jahr der Machtergreifung der {{Wpl|Nationalsozialismus|Nationalsozialist}}en, legte Rothschild auf einem Gymnasium in Frankfurt am Main ihr Abitur ab. Danach plante sie ein Physik- und Mathematikstudium an der Philipps-Universität in Marburg (Lahn) zu beginnen. Sie ließ sich laut eigenen Angaben als Kind eines jüdischen Kriegsteilnehmers immatrikulieren, musste aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft das begonnene Studium bereits nach dem zweiten Semester abbrechen [Anm. 2]. Ihre Familie war zunehmend antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt. Anfang der 1930er Jahre zählte Oberaula circa 1200 Einwohner, darunter 21 jüdische Familien [Anm. 3]. 1936 wurde sie auf Basis eines erfundenen Vorwurfs eines Oberaulaner Mitbürgers verhaftet und mehrere Tage im Gefängnis inhaftiert [Anm. 4]. |
Im Januar 1937 heiratete Rothschild den 13 Jahre älteren Pferdehändler Siegmund Spiegel, dessen Namen sie annahm, und zog zu ihm nach Ahlen. Die jüdische Familie von Siegmund Spiegel gehörte dem mittleren und gehobenen Bürgertum an und war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Ahlen heimisch [Anm. 5]. 1938 wurde die gemeinsame Tochter Karin geboren. Auch in Ahlen war Marga Spiegels Familie Diskriminierungen ausgesetzt; so wurde laut eigenem Bekunden der Kinderwagen ihrer Tochter mit Steinen beworfen [Anm. 6]. Zwei Schwestern ihres Ehemannes emigrierten in dieser Zeit in die Vereinigten Staaten. 1937 verstarb Spiegels Mutter an einer Herzerkrankung, während der Vater, in der Vergangenheit mehrfach in Schutzhaft genommen, zur Tochter nach Ahlen zog. Im Juni 1938 wurde Spiegels Vater verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert, nachdem er sich um eine Bürgschaft für eine Ausreise aus Deutschland bemüht hatte. Er starb einen Monat später im Konzentrationslager. | Im Januar 1937 heiratete Rothschild den 13 Jahre älteren Pferdehändler Siegmund Spiegel, dessen Namen sie annahm, und zog zu ihm nach Ahlen. Die jüdische Familie von Siegmund Spiegel gehörte dem mittleren und gehobenen Bürgertum an und war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Ahlen heimisch [Anm. 5]. 1938 wurde die gemeinsame Tochter Karin geboren. Auch in Ahlen war Marga Spiegels Familie Diskriminierungen ausgesetzt; so wurde laut eigenem Bekunden der Kinderwagen ihrer Tochter mit Steinen beworfen [Anm. 6]. Zwei Schwestern ihres Ehemannes emigrierten in dieser Zeit in die Vereinigten Staaten. 1937 verstarb Spiegels Mutter an einer Herzerkrankung, während der Vater, in der Vergangenheit mehrfach in Schutzhaft genommen, zur Tochter nach Ahlen zog. Im Juni 1938 wurde Spiegels Vater verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert, nachdem er sich um eine Bürgschaft für eine Ausreise aus Deutschland bemüht hatte. Er starb einen Monat später im Konzentrationslager. | ||
− | Bei den Novemberprogromen 1938 wurden die Spiegels in ihrer Wohnung von fünf Ahlener SA-Männern überfallen und misshandelt. 1940 floh Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Dortmund, wo diese mit mehreren anderen jüdischen Familien in einem | + | Bei den Novemberprogromen 1938 wurden die Spiegels in ihrer Wohnung von fünf Ahlener SA-Männern überfallen und misshandelt. 1940 floh Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Dortmund, wo diese mit mehreren anderen jüdischen Familien in einem „Judenhaus“ und später in eine Baracke nach Ahlen umzogen. Im Oktober 1941 wurde ihre verheiratete Schwester Johanna ins KZ Auschwitz deportiert, wo sie ums Leben kam. Spiegels Ehemann hatte währenddessen eine Stelle bei der Dortmunder Firma ''Sommer'' bekommen, die Zechentürme entrostete [Anm. 7]. Er nutzte seine alten Kontakte als Pferdehändler und lieh sich bei einem befreundeten Bauern ein Fahrrad. Damit fuhr er nahe gelegene Höfe ab und organisierte zusätzliche Lebensmittel für seine Familie. Von einem ansässigen Bauern soll Spiegels Ehemann von Massakern an Juden in Polen erfahren haben, woraufhin er sich um Zusagen für Versteckmöglichkeiten bemühte [Anm.8]. |
=== Zeit im Untergrund und Veröffentlichung ihrer Überlebensgeschichte === | === Zeit im Untergrund und Veröffentlichung ihrer Überlebensgeschichte === | ||
Im Februar 1943 erhielt Spiegels Ehemann eine Einberufung zur Kontrolle seiner Arbeitspapiere, woraufhin die Familie eine Deportation befürchtete. Die Spiegels flüchteten daraufhin zu katholischen Bauern ins südliche Münsterland, wo die Eheleute getrennt voneinander Unterschlupf erhielten. Marga Spiegel und ihre Tochter verbrachten mehrere Monate als Dortmunder Ausgebombte „Margarete“ und „Karin Krone“ in verschiedenen Verstecken. Gelegentlich kam es zu gemeinsamen Treffen der Familie. Im Oktober 1944 fuhr Spiegel nach Münster und beschaffte sich dort, gegen den Willen ihres Ehemanns, falsche Papiere. 27 Monate lang gelang es den Bauern, die jüdische Familie vor der Deportation zu bewahren, ehe im April 1945 die Alliierten das Münsterland erreichten. | Im Februar 1943 erhielt Spiegels Ehemann eine Einberufung zur Kontrolle seiner Arbeitspapiere, woraufhin die Familie eine Deportation befürchtete. Die Spiegels flüchteten daraufhin zu katholischen Bauern ins südliche Münsterland, wo die Eheleute getrennt voneinander Unterschlupf erhielten. Marga Spiegel und ihre Tochter verbrachten mehrere Monate als Dortmunder Ausgebombte „Margarete“ und „Karin Krone“ in verschiedenen Verstecken. Gelegentlich kam es zu gemeinsamen Treffen der Familie. Im Oktober 1944 fuhr Spiegel nach Münster und beschaffte sich dort, gegen den Willen ihres Ehemanns, falsche Papiere. 27 Monate lang gelang es den Bauern, die jüdische Familie vor der Deportation zu bewahren, ehe im April 1945 die Alliierten das Münsterland erreichten. | ||
− | Nach Ende des Krieges kehrte Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Ahlen zurück. Sie waren die einzigen aus den Großfamilien Rothschild und Spiegel, die den Holocaust überlebt hatten. Keiner von ihren 37 Verwandten war der Deportation entkommen. Insgesamt überlebten 550 bis 600 westfälische Juden den Holocaust, nachdem 1933 noch 18.819 „Glaubensjuden“ gezählt worden waren [Anm. 9]. | + | Nach Ende des Krieges kehrte Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Ahlen zurück. Sie waren die einzigen aus den Großfamilien Rothschild und Spiegel, die den Holocaust überlebt hatten. Keiner von ihren 37 Verwandten war der Deportation entkommen. Insgesamt überlebten 550 bis 600 westfälische Juden den Holocaust, nachdem 1933 noch 18.819 „Glaubensjuden“ gezählt worden waren [Anm. 9]. Siegmund Spiegel baute einen neuen Pferdehandel auf, und es wurde ein weiterer Sohn, Daniel, geboren. Beide Kinder übersiedelten später in die Vereinigten Staaten. Spiegels Tochter ist mittlerweile verstorben [Anm. 10]. |
− | Im September 1945 wurde Strafanzeige gegen die sechs Hauptbeteiligten der Ahlener Novemberpogrome gestellt. Nach mehreren Verhandlungen wurden jedoch die ehemalige Angehörigen der Ahlener SA im Oktober 1949 freigesprochen und nur einer wegen einfachen Landfriedensbruches zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, gegen die erfolgreich Revision eingelegt wurde [Anm. 11]. | + | Im September 1945 wurde Strafanzeige gegen die sechs Hauptbeteiligten der Ahlener Novemberpogrome gestellt. Nach mehreren Verhandlungen wurden jedoch die ehemalige Angehörigen der Ahlener SA im Oktober 1949 freigesprochen und nur einer wegen einfachen Landfriedensbruches zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, gegen die erfolgreich Revision eingelegt wurde [Anm. 11]. 1964/65 zeichnete Spiegel ihre Erinnerungen an das Untertauchen auf, die erstmals zwischen Januar und Mai 1965 in 17 Folgen in der münsterischen Bistumszeitung ''Kirche und Leben'' veröffentlicht wurde. 1969 erschien ihr „Tatsachenbericht“ unter dem Titel ''Retter in der Nacht'' in Buchform und gilt heute als wichtige Quelle für die Geschichte der westfälischen Juden zur Zeit des Holocaust [Anm. 12]. Im selben Jahr wurden die Bauernfamilien, die die Spiegels versteckten, durch den israelischen Botschafter in Deutschland, Asher Ben-Natan, geehrt [Anm. 13]. |
Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1982 [Anm. 14] zog die Tante des 2006 verstorbenen Paul Spiegel, des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach Münster, wo sie noch heute lebt. Ihr Buch ''Retter in der Nacht'' wurde mehrfach aufgelegt und nachträglich um ihre Zeit in Oberaula und Hersfeld und Reflexionen über ihr Schicksal und den Holocaust ergänzt. 2009 wurde der autobiographische Roman von Ludi Boeken unter dem Titel ''Unter Bauern – Retter in der Nacht'' mit Veronica Ferres in der Hauptrolle verfilmt. Der Spielfilm, der seine erfolgreiche Uraufführung Anfang August 2009 beim Internationalen Filmfestival von Locarno feierte [Anm. 15], wurde am [[7. Oktober]] [[2009]] im Rahmen des [[Filmfestival Münster|Filmfestivals Münster]] erstmals in Deutschland gezeigt. Gemeinsam mit unter anderem Jenny Aloni, Benno Elkan, Benno Jacob, Imo Moszkowicz und Jeanette Wolff ist Spiegel seit 2004 die Dauerausstellung ''Jüdische Lebenswege'' im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten gewidmet, in der das Judentum in Westfalen vom frühen Mittelalter bis in die heutigen Tage anhand von Biografien nachgezeichnet wird [Anm. 16]. | Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1982 [Anm. 14] zog die Tante des 2006 verstorbenen Paul Spiegel, des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach Münster, wo sie noch heute lebt. Ihr Buch ''Retter in der Nacht'' wurde mehrfach aufgelegt und nachträglich um ihre Zeit in Oberaula und Hersfeld und Reflexionen über ihr Schicksal und den Holocaust ergänzt. 2009 wurde der autobiographische Roman von Ludi Boeken unter dem Titel ''Unter Bauern – Retter in der Nacht'' mit Veronica Ferres in der Hauptrolle verfilmt. Der Spielfilm, der seine erfolgreiche Uraufführung Anfang August 2009 beim Internationalen Filmfestival von Locarno feierte [Anm. 15], wurde am [[7. Oktober]] [[2009]] im Rahmen des [[Filmfestival Münster|Filmfestivals Münster]] erstmals in Deutschland gezeigt. Gemeinsam mit unter anderem Jenny Aloni, Benno Elkan, Benno Jacob, Imo Moszkowicz und Jeanette Wolff ist Spiegel seit 2004 die Dauerausstellung ''Jüdische Lebenswege'' im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten gewidmet, in der das Judentum in Westfalen vom frühen Mittelalter bis in die heutigen Tage anhand von Biografien nachgezeichnet wird [Anm. 16]. | ||
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*[Anm. 15] : vgl. Claus, Peter: ''Deutsches Kino glänzt am Lago Maggiore''. In: ''Die Welt'', 10. August 2009, Ausg. 184/2009, S. 25 | *[Anm. 15] : vgl. Claus, Peter: ''Deutsches Kino glänzt am Lago Maggiore''. In: ''Die Welt'', 10. August 2009, Ausg. 184/2009, S. 25 | ||
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Version vom 11. Februar 2024, 13:00 Uhr
Marga Spiegel (* 21. Juni 1912 in Oberaula, Schwalm-Eder-Kreis; als Marga Rothschild; † 11. März 2014 in Münster) war eine deutsche Überlebende des Holocaust. Die Jüdin tauchte mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter von 1943 bis 1945 bei katholischen Bauern im Münsterland unter und entging so der drohenden Deportation. Über diese Zeit veröffentlichte Spiegel unter anderem 1969 ein Buch, das 2009 verfilmt wurde. Seit 1982 lebte Marga Spiegel in Münster.
Inhaltsverzeichnis
Biografie
Kindheit und Ausbildung
Marga Spiegel wurde 1912 als Tochter von Siegmund Rothschild (1882–1938) und dessen Ehefrau Cilly (1888–1937; Geburtsname: Rosenstock) geboren und entstammte einer Landjudenfamilie aus Nordhessen [Anm. 1]. Ihre Kindheit verbrachte sie mit ihren Eltern und ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Johanna in dem hessischen Dorf Oberaula, wo ihre Großeltern eine Färberei besaßen und sie die Schule besuchte. Von 1920 bis 1922 ging Marga Rothschild in die Privatschule von Adele Dippel in Oberaula und wechselte 1924 auf ein Lyzeum in Hersfeld.
1933, im Jahr der Machtergreifung der NationalsozialistWPen, legte Rothschild auf einem Gymnasium in Frankfurt am Main ihr Abitur ab. Danach plante sie ein Physik- und Mathematikstudium an der Philipps-Universität in Marburg (Lahn) zu beginnen. Sie ließ sich laut eigenen Angaben als Kind eines jüdischen Kriegsteilnehmers immatrikulieren, musste aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft das begonnene Studium bereits nach dem zweiten Semester abbrechen [Anm. 2]. Ihre Familie war zunehmend antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt. Anfang der 1930er Jahre zählte Oberaula circa 1200 Einwohner, darunter 21 jüdische Familien [Anm. 3]. 1936 wurde sie auf Basis eines erfundenen Vorwurfs eines Oberaulaner Mitbürgers verhaftet und mehrere Tage im Gefängnis inhaftiert [Anm. 4].
Im Januar 1937 heiratete Rothschild den 13 Jahre älteren Pferdehändler Siegmund Spiegel, dessen Namen sie annahm, und zog zu ihm nach Ahlen. Die jüdische Familie von Siegmund Spiegel gehörte dem mittleren und gehobenen Bürgertum an und war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Ahlen heimisch [Anm. 5]. 1938 wurde die gemeinsame Tochter Karin geboren. Auch in Ahlen war Marga Spiegels Familie Diskriminierungen ausgesetzt; so wurde laut eigenem Bekunden der Kinderwagen ihrer Tochter mit Steinen beworfen [Anm. 6]. Zwei Schwestern ihres Ehemannes emigrierten in dieser Zeit in die Vereinigten Staaten. 1937 verstarb Spiegels Mutter an einer Herzerkrankung, während der Vater, in der Vergangenheit mehrfach in Schutzhaft genommen, zur Tochter nach Ahlen zog. Im Juni 1938 wurde Spiegels Vater verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert, nachdem er sich um eine Bürgschaft für eine Ausreise aus Deutschland bemüht hatte. Er starb einen Monat später im Konzentrationslager.
Bei den Novemberprogromen 1938 wurden die Spiegels in ihrer Wohnung von fünf Ahlener SA-Männern überfallen und misshandelt. 1940 floh Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Dortmund, wo diese mit mehreren anderen jüdischen Familien in einem „Judenhaus“ und später in eine Baracke nach Ahlen umzogen. Im Oktober 1941 wurde ihre verheiratete Schwester Johanna ins KZ Auschwitz deportiert, wo sie ums Leben kam. Spiegels Ehemann hatte währenddessen eine Stelle bei der Dortmunder Firma Sommer bekommen, die Zechentürme entrostete [Anm. 7]. Er nutzte seine alten Kontakte als Pferdehändler und lieh sich bei einem befreundeten Bauern ein Fahrrad. Damit fuhr er nahe gelegene Höfe ab und organisierte zusätzliche Lebensmittel für seine Familie. Von einem ansässigen Bauern soll Spiegels Ehemann von Massakern an Juden in Polen erfahren haben, woraufhin er sich um Zusagen für Versteckmöglichkeiten bemühte [Anm.8].
Zeit im Untergrund und Veröffentlichung ihrer Überlebensgeschichte
Im Februar 1943 erhielt Spiegels Ehemann eine Einberufung zur Kontrolle seiner Arbeitspapiere, woraufhin die Familie eine Deportation befürchtete. Die Spiegels flüchteten daraufhin zu katholischen Bauern ins südliche Münsterland, wo die Eheleute getrennt voneinander Unterschlupf erhielten. Marga Spiegel und ihre Tochter verbrachten mehrere Monate als Dortmunder Ausgebombte „Margarete“ und „Karin Krone“ in verschiedenen Verstecken. Gelegentlich kam es zu gemeinsamen Treffen der Familie. Im Oktober 1944 fuhr Spiegel nach Münster und beschaffte sich dort, gegen den Willen ihres Ehemanns, falsche Papiere. 27 Monate lang gelang es den Bauern, die jüdische Familie vor der Deportation zu bewahren, ehe im April 1945 die Alliierten das Münsterland erreichten.
Nach Ende des Krieges kehrte Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Ahlen zurück. Sie waren die einzigen aus den Großfamilien Rothschild und Spiegel, die den Holocaust überlebt hatten. Keiner von ihren 37 Verwandten war der Deportation entkommen. Insgesamt überlebten 550 bis 600 westfälische Juden den Holocaust, nachdem 1933 noch 18.819 „Glaubensjuden“ gezählt worden waren [Anm. 9]. Siegmund Spiegel baute einen neuen Pferdehandel auf, und es wurde ein weiterer Sohn, Daniel, geboren. Beide Kinder übersiedelten später in die Vereinigten Staaten. Spiegels Tochter ist mittlerweile verstorben [Anm. 10].
Im September 1945 wurde Strafanzeige gegen die sechs Hauptbeteiligten der Ahlener Novemberpogrome gestellt. Nach mehreren Verhandlungen wurden jedoch die ehemalige Angehörigen der Ahlener SA im Oktober 1949 freigesprochen und nur einer wegen einfachen Landfriedensbruches zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, gegen die erfolgreich Revision eingelegt wurde [Anm. 11]. 1964/65 zeichnete Spiegel ihre Erinnerungen an das Untertauchen auf, die erstmals zwischen Januar und Mai 1965 in 17 Folgen in der münsterischen Bistumszeitung Kirche und Leben veröffentlicht wurde. 1969 erschien ihr „Tatsachenbericht“ unter dem Titel Retter in der Nacht in Buchform und gilt heute als wichtige Quelle für die Geschichte der westfälischen Juden zur Zeit des Holocaust [Anm. 12]. Im selben Jahr wurden die Bauernfamilien, die die Spiegels versteckten, durch den israelischen Botschafter in Deutschland, Asher Ben-Natan, geehrt [Anm. 13].
Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1982 [Anm. 14] zog die Tante des 2006 verstorbenen Paul Spiegel, des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach Münster, wo sie noch heute lebt. Ihr Buch Retter in der Nacht wurde mehrfach aufgelegt und nachträglich um ihre Zeit in Oberaula und Hersfeld und Reflexionen über ihr Schicksal und den Holocaust ergänzt. 2009 wurde der autobiographische Roman von Ludi Boeken unter dem Titel Unter Bauern – Retter in der Nacht mit Veronica Ferres in der Hauptrolle verfilmt. Der Spielfilm, der seine erfolgreiche Uraufführung Anfang August 2009 beim Internationalen Filmfestival von Locarno feierte [Anm. 15], wurde am 7. Oktober 2009 im Rahmen des Filmfestivals Münster erstmals in Deutschland gezeigt. Gemeinsam mit unter anderem Jenny Aloni, Benno Elkan, Benno Jacob, Imo Moszkowicz und Jeanette Wolff ist Spiegel seit 2004 die Dauerausstellung Jüdische Lebenswege im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten gewidmet, in der das Judentum in Westfalen vom frühen Mittelalter bis in die heutigen Tage anhand von Biografien nachgezeichnet wird [Anm. 16].
Literatur
- Spiegel, Marga: Retter in der Nacht. Röderberg-Verlag, Frankfurt am Main 1969. (Erweiterte Neuauflage: Retter in der Nacht: wie eine jüdische Familie im Münsterland überlebte; Münster [u.a.]: Lit, 1999 (Geschichte und Leben der Juden in Westfalen; 3). – ISBN 3-8258-3595-2.)
- (Neuausgabe:) * Marga Spiegel: Bauern als Retter. Wie eine jüdische Familie überlebte. Mit einem Vorwort von Veronica Ferres. 2. Auflage. Münster : Lit Verlag, 2009, ISBN 978-3-8258-0942-3
Weblinks
- Kurzporträt bei zdf.de
- „Wer wegschaut, macht sich schuldig“ – Interview bei wdr.de, 1. Oktober 2009
- Wo kommst weg? – Porträt im Spiegel 42/1966 vom 10. Oktober 1966, S. 88
- Interview mit Marga Spiegel bei Filmreporter.de
Einzelnachweise
- [Anm. 1] : vgl. Porträt bei cinestar.de (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 2] : vgl. Spiegel, Marga: Retter in der Nacht: wie eine jüdische Familie im Münsterland überlebte. Münster [u.a.]: Lit, 1999 (Geschichte und Leben der Juden in Westfalen; 3). – ISBN 3-8258-3595-2. S. 61
- [Anm. 3] : ebd., S. 46
- [Anm. 4] : Porträt bei cinestar.de (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 5] : Spiegel, Marga; Retter in der Nacht, S. 36-37
- [Anm. 6] : vgl. Interview bei wdr.de, 1. Oktober 2009 (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 7] : Porträt bei cinestar.de (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 8] : Interview bei wdr.de, 1. Oktober 2009 (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 9] : Spiegel, Marga; Retter in der Nacht, S. 4-5
- [Anm. 10] : Interview bei wdr.de, 1. Oktober 2009 (aufgerufen am 15. Oktober 2009)
- [Anm. 11] : Spiegel, Marga; Retter in der Nacht, S. 39
- [Anm. 12] : ebd., S. 10
- [Anm. 13] : ebd., S. 16
- [Anm. 14] : ebd., S. 204
- [Anm. 15] : vgl. Claus, Peter: Deutsches Kino glänzt am Lago Maggiore. In: Die Welt, 10. August 2009, Ausg. 184/2009, S. 25
- [Anm. 16] : vgl. "Jüdische Lebenswege“ zeichnen 1000 Jahre Geschichte nach. In: Saarbrücker Zeitung, 9. Januar 2004
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