Johann Hinrich Wichern: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 4. Mai 2024, 07:33 Uhr
Johann Hinrich Wichern (*21. April 1808 in HamburgWP; †7. April 1881) war ein TheologeWP, SozialpädagogeWP und Gefängnisreformer. Er gründete das „Rauhe HausWP“ in Hamburg und gilt als Begründer der „Inneren MissionWP“ der „evangelischen KircheWP“, als einer der Väter der deutschen RettungshausbewegungWP sowie als Erfinder des AdventskranzesWP.
Inhaltsverzeichnis
Biografie
Kindheit, Schule
Johann Hinrich Wichern war das älteste von sieben Kindern einer bürgerlichen, christlichen Familie, die in einfachen Verhältnissen lebte. Sein Vater hatte sich vom FuhrmannWP zum vereidigten Übersetzer (NotarWP) hochgearbeitet. Wichern teilte mit seinem Vater die Liebe zur Musik. Seine Mutter, Caroline Maria Elisabeth geb. Wittstock, stammte ebenfalls aus Hamburg und wird als energisch, praktisch und fromm beschrieben. Johann Hinrich Wichern besuchte eine Privatschule, in der nach der Pädagogik PestalozzisWP unterrichtet wurde. 1818 wechselte er auf das JohanneumWP, ein bereits lange bestehendes Gymnasium, das im 16. Jahrhundert von Johannes BugenhagenWP, dem Mitstreiter Martin LutherWPs und ReformatorWP Norddeutschlands, gegründet worden war. Als sein Vater 1823 starb, musste er sich um den Lebensunterhalt der Familie kümmern, indem er Nachhilfe- und Klavierstunden erteilte. 1826 verließ er das Johanneum vor dem Abitur und wurde Erzieher an einer privaten Internatsschule.
Er begann ein Tagebuch zu schreiben, in dem er auch einen Anfang seines geistlichen Lebens schildert (1824). Demnach hatte sein Konfirmandenunterricht ein BekehrungWPserlebnis zur Folge: „Der Durchbruch geschah abends, als Gottes Geist mich anfing von neuem zu gebären. Das Licht des Evangelii erleuchtete auch für mich die Wissenschaften … ich habe Fortschritte in jeglichem gemacht.“ Hinzu kam im Jahre 1826 eine Begegnung mit Johannes ClaudiusWP, dem Sohn des Dichters Matthias ClaudiusWP, durch die er zu der Erkenntnis kam, „daß wir einen Gott haben, der uns unaussprechlich liebt und heiligen will“. Nebenbei belegte er Vorlesungen am Akademischen GymnasiumWP und holte das Abitur nach. Dort begegnete er als Mitschüler einem seiner späteren Mitstreiter für die Belange der Inneren Mission, Clemens Theodor PerthesWP.
Studium
Ein Stipendium, das von Freunden aus den erwecklichen KreisenWP Hamburgs finanziert wurde – an vorderster Stelle Martin Hieronymus HudtwalckerWP – und eine jährliche Rente durch Amalie SievekingWP, ermöglichte Wichern 1828 die Aufnahme des TheologieWPstudiums. Zunächst besuchte er die Universität GöttingenWP, dann wechselte er nach BerlinWP.
In der Berliner Zeit zog ihn die Tiefe des ErweckungstheologenWP August NeanderWP besonders an. Dieser hatte wie Wichern das Johanneum in Hamburg besucht. Wichern trat in den Mitarbeiterkreis des Hans Ernst von KottwitzWP ein, der sich aus einer erweckten, entschiedenen Christusfrömmigkeit heraus um die Armen der Großstadt kümmerte, zum Beispiel in der Beschäftigungsanstalt in der Kaserne am Alexanderplatz.
In Berlin begegnete er auch dem jüdischen, später katholischen Arzt Nikolaus Heinrich JuliusWP, der eine Arbeit über die Reformen im Gefängniswesen verfasst hatte. Unter den berühmten Predigern Berlins beeindruckte ihn vor allem Johannes Evangelista GoßnerWP wegen der Entschiedenheit seiner Verkündigung.
1832 beendete er sein Studium mit dem Theologischen Examen.
Lehrtätigkeit, volksmissionarisches und soziales Engagement
Im Jahre 1832 übernahm Johann Hinrich Wichern eine Stelle als Oberlehrer an der von Johann Gerhard OnckenWP und dem evangelisch-lutherischen Pfarrer Johann Wilhelm RautenbergWP initiierten SonntagsschuleWP in der Evangelischen Kirchengemeinde St. GeorgWP; der Sankt GeorgWP vor den Toren der Stadt Hamburg war ein Elendsquartier: hierhin hatte man im Mittelalter Pestkranke und Aussätzige verbannt, hier stand der Galgen. Wichern trat einem Besuchsverein bei, der die Eltern der Sonntagsschulkinder zu Hause besuchte. Durch diese Arbeit lernte Wichern die schreiende Armut, die Wohnungsnot, die geistige und sittliche Verwahrlosung in Hamburg kennen. Er fertigte Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkte. Im Hamburger Vorort HornWP gründete er nach einem Jahr eine Anstalt „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Er bezeichnete auch das Lesenlernen als Weg zum Seelenheil.
Die Gründungsversammlung fand im Saal der BörsenhalleWP am 12. September 1833 statt. Der Hamburger Syndikus Karl SievekingWP, ein Verwandter Amalie SievekingWPs, hatte ihm eine Kate, „Ruges Haus“, mitsamt Grundstück überlassen. Der Volksmund machte aus „Ruges Haus“ das „Rauhe HausWP“. Am 31. Oktober zog Wichern mit seiner Mutter und seiner Schwester in das Rauhe Haus ein. Bis zum 12. November waren 6.500 MarkWP zusammengebracht worden. Bereits zum Jahresende 1833 hatte Wichern zwölf Jungen in die Hausgemeinschaft aufgenommen. Die Zahl der Jungen wuchs, sodass neue Gebäude errichtet werden mussten. Gemeinsam mit seinem Mentor, dem PöseldorferWP Schulleiter Johann Ludwig Emanuel Pluns, gab er den „Bergedorfer Boten“ heraus.1
Ab 1835 wurden auch Mädchen aufgenommen. Die Kinder lebten in familienähnlichen Strukturen zusammen, jeweils zehn bis zwölf Kinder mit einem Betreuer, der „Bruder“ genannt wurde. Wichern bildete die Brüder ab 1839 in einem „Gehilfeninstitut“ intensiv aus. Wichern wurde einer der Erneuerer des neutestamentlichen DiakonenamtsWP, das bereits der Genfer Reformator Johannes CalvinWP wiederentdeckt, hervorgehoben und als gleichberechtigtes kirchliches Amt neben dem Amt der Pastoren, der Lehrer und Ältesten (Presbyter) in der Praxis der „nach Gottes Wort reformierten Kirche“ eingerichtet hatte. Wichern bezeichnete „Jesus Christus als ersten inneren Missionar“. Die wahre Christologie sei der Weg nach „unten“.
Die von Wichern ausgebildeten Männer wurden auch Armen- und Volksschullehrer oder Sozialarbeiter.
Wichern errichtete zu den vorhandenen Gebäuden später auch Werkstätten, nämlich eine Spinnerei, eine Schuhmacherei und einen landwirtschaftlichen Betrieb, und einen BetsaalWP. 1842 wurde eine Buchdruckerei zur Herstellung der Fliegenden Blätter eingerichtet, in denen die Anliegen der Inneren Mission verbreitet wurden. Im Rauhen Haus hing auch der WichernkranzWP, der erste AdventskranzWP, als dessen Erfinder Wichern gilt.
Seine erste Mitarbeiterin, Amanda BöhmeWP (1810–1888), Tochter eines Brandversicherungsdirektors und Nachkomme Jakob BöhmeWPs, wurde 1835 seine Frau. Aus der Ehe gingen neun Kinder hervor.2 Amanda Wicherns Eigenständigkeit neben Johann Hinrich und die paarbiographische Seite Wichernscher Organisationsleistung wurde lange nicht beleuchtet; der Blick auf erhalten gebliebenen Briefwechsel3 wirft statt sonst verbreiteter Randnotizen erst seit neuerer Zeit einen Blick auf sie und andere wohlfahrtsstaatlich und sozialpädagogisch gestaltende Frauen (nicht nur) „an der Seite ihrer Männer“.4
Ab 1842 begegnet in Wicherns Schriften und Briefen immer öfter der Begriff der „Inneren Mission“. Wichern wollte über seine eigene Tätigkeit im Rauhen Haus hinaus „Werke rettender Liebe“ in ganz Deutschland anregen. Er sah in der [[wikipedia:de:Deutsche Revolution 1848/49|Revolution des Jahres 1848WP]] die Folge des sozialen Elends, des Versagens kirchlicher Verkündigung und Seelsorge. Er grenzte sich aber von Karl Marx’ These, die Umstände (Ausbeuterordnung) allein seien hauptverantwortlich für alles Elend, ab.5
Am 22. September 1848 hielt Wichern auf dem ersten evangelischen Kirchentag 1848WP in WittenbergWP, einer Versammlung zur Vereinigung der Landeskirchen, eine programmatische Rede zur Gründung des „Centralausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“, der sich am 11. November 1848 konstituierte; er ist die Vorläuferorganisation des heutigen Diakonischen WerkesWP. In der Folgezeit entstanden in allen Regionen der deutschen evangelischen Kirchen „Vereine für Innere Mission“.
Ebenfalls 1848 gründete Wichern in Hamburg, inspiriert durch die StadtmissionWPen in Glasgow und London, die erste deutsche Stadtmission. Was für Wichern im Allgemeinen die „Innere Mission“ war, das nannte er in Hamburg „StadtmissionWP“.
Im Jahre 1849 widmete sich Wichern ausschließlich der Reisetätigkeit zur Förderung der „Inneren Mission“. 1851 bekam er von der Universität HalleWP den Doktor der Theologie verliehen. Bis 1855 entstanden in Deutschland über 100 RettungshäuserWP.
Für Wichern gehörten Glaube an Gott und NächstenliebeWP, Mission und Diakonie, Erneuerung der Kirche und Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zusammen. Das Wort GottesWP, das Evangelium von Jesus Christus, der Ruf zum Glauben waren für ihn Quelle der Kraft und der Rettung der Menschen. Es lag ihm an freier, volksmissionWParischer Wortverkündigung. Er arbeitete für eine evangelische Kirche, in der im Sinne des biblischen „allgemeinen PriestertumsWP“ der Gläubigen aus Hörern des Wortes auch Prediger und Täter des Wortes werden, so dass sich auch die Untätigkeit angesichts des Elends der Armen in tatkräftige Hilfe verwandelt. Das Christentum sollte wieder zur prägenden Kraft in den Familien, Schulen und Betrieben werden. Wichern forderte eine kirchliche Verkündigung, die nicht nur die rechte Lehre (lutherisch oder reformiert) vermittelt, sondern ein Glaubenszeugnis ist. Prediger sollten nicht nur wissenschaftlich ausgebildet, sondern auch „mit Geist und Feuer“ getauft sein. Dazu sollten vermehrt PrädikantWPen („Laienprediger“) herangebildet und berufen werden. Er dachte auch an den Einsatz von Evangelisten an Orten außerhalb der Kirchengebäude, auf Straßen und Plätzen, in Scheunen und Theatern. Er bemängelte, dass viele fähige Leute in ferne Länder zur „HeidenmissionWP“ gesandt würden, während doch auch in deutschen Landen Missionsarbeit und EvangelisationWP nötig seien.
Wichern übte Kritik an der herrschenden Praxis der KonfirmationWP: er nannte die „religiöse Verwahrlosung der meisten Elternhäuser“ beim Namen, die Unaufrichtigkeit der Gelübde, das Desinteresse am Eintritt in die Abendmahlsgemeinschaft der christlichen Gemeinde; er sah und sagte, dass die Konfirmation von den meisten Heranwachsenden und ihren Eltern als Abschluss der Kindheit und Übergang zu ungebundenem Erwachsensein betrachtet werde. Er schlug vor, den kirchlichen Unterricht mit abschließender „Einsegnung“ zu erhalten, aber das öffentliche Glaubensbekenntnis und das Gelübde als Voraussetzung der Zulassung zum Heiligen Abendmahl davon zu trennen und solchen vorzubehalten, denen es mit dem christlichen Glauben und Leben ernst ist.
Im Dienst von Staat und Kirche
Als der preußische König Friedrich Wilhelm IV.WP in den 1850er Jahren einen neuen Versuch unternahm, das preußische Gefängniswesen im Sinne der EinzelhaftWP zu reformieren, griff er auf die Hilfe Wicherns zurück. Wichern hatte nicht nur mit dem „Rauhen Haus“ und der „Inneren Mission“ die Aufmerksamkeit des Königs erregt, sondern in seiner Wittenberger Rede auch explizit Probleme des Strafvollzugs thematisiert. Im Auftrag der Regierung besichtigte Wichern 1852 und 1853 die preußischen Gefängnisse und nahm zwischen 1854 und 1856 maßgeblichen Einfluss auf die Reorganisation des Preußischen Mustergefängnis MoabitWP, in welchem nun vor allem Brüder des „Rauhen Hauses“ Aufseherdienste versahen. Am 11. Januar 1857 trat er als „Vortragender Rat“ mit dem Dezernat für das Armen- und Gefängniswesen im Ministerium des Innern in den preußischen Staatsdienst ein. Im selben Jahr wurde er als OberkonsistorialratWP Mitglied des altpreußischenWP Evangelischen OberkirchenratesWP BerlinWP. 1858 gründete er das Brüderhaus JohannesstiftWP nicht zuletzt zur Ausbildung von Gefangenenaufsehern.
Gerade die Beschäftigung der „Brüder-Aufseher“ führte indes bald zu massiven öffentlichen Angriffen. Hierbei wurden vor allem die Vermengung staatlicher und religiöser Aufgaben und Loyalitäten kritisiert. Im Februar 1861 gab Wichern die Spezialaufsicht über Moabit ab, während das preußische Abgeordnetenhaus 1862 beschloss, die Zusammenarbeit mit der Bruderschaft zu beenden. Wichern behielt jedoch die Leitung des preußischen Strafvollzugs des Innenministeriums, bis ihn Schlaganfälle 1873 zur Aufgabe zwangen. Er wurde am 9. November 1874 offiziell aus seinem Amt entlassen.6
Während dreier Kriege, des Deutsch-Dänischen KriegsWP, des Deutschen KriegsWP und des Deutsch-Französischen KriegsWP kümmerte sich Wichern um die Auswahl und Ausbildung von FelddiakonenWP. Im Deutsch-Französischen Krieg gelang es Johann Hinrich Wichern durchzusetzen, dass die ausschließlich männlichen Felddiakone erstmals das Schutz- und Erkennungssymbol des Roten KreuzesWP tragen durften.7
Letzte Jahre
Johann Hinrich Wichern hatte trotz seiner Arbeit in Berlin nie ganz die Leitung des „Rauhen Hauses“ abgegeben und kehrte 1872 nach Hamburg zurück. Am 1. April 1873 gab er krankheitshalber die Leitung des Rauhen Hauses an seinen Sohn JohannesWP ab. 1874 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen. Es folgte eine langjährige Leidenszeit mit Schwäche, Schmerzen und Schlaflosigkeit. Am 7. April 1881 starb Wichern nach mehreren Schlaganfällen und langem Leiden in Hamburg-HammWP. Er wurde auf dem Hammer FriedhofWP beigesetzt, der heute ein historischer Ort mit Gräbern bedeutender sozial engagierter Hamburger ist.
Sein letztes Vermächtnis lautete:
„Wenn Gott es beschlossen hat, mich zu sich zu nehmen, so sollt Ihr, meine Lieben, wissen, daß mein einziges Gebet ist, daß ich selig werde, daß ich zu ihm komme und Frieden in ihm finde. Ich habe mich immer zu ihm bekannt, aber in großer Schwachheit. Er wird mir aber meine Sünden vergeben, darauf geht alle meine Hoffnung um seiner Liebe und Liebestat willen, um seines für mich vergossenen Blutes willen.“
Menschenbild
Johann Hinrich Wichern sah den Menschen als ein von GottWP geschaffenes Geschöpf an. Jedes Kind sei etwas Einzigartiges, so dass ihm eine individuelle Pflege und Behandlung zustehe. Der Mensch habe die Fähigkeit, sich zum „Guten“ zu entscheiden oder aber seine Neigungen zum „Bösen“ auszuleben. Da der Mensch von Wichern als ebendiese freie Persönlichkeit gesehen wurde, wurden die Kinder und Jugendlichen in Freiheit erzogen. Die Erlösung zum „Guten“ kann nach Wichern nur durch den christlichen Glauben geschehen.
Erziehungskonzept
Der genaue Inhalt und die Bedeutung dieses „Guten“ des christlichen Glaubens, wie Wichern ihn verstand, wird explizit bei einer näheren Betrachtung seines Erziehungskonzepts. Entscheidend hierfür ist die theologische Entwicklung Wicherns, diese war geprägt von einem „WiedergeburtserlebnisWP“, das ihn zu einem überzeugten Vertreter der gerade erstarkenden evangelischen ErweckungsbewegungWP machte. Dieses Erlebnis wurde zu einem bestimmenden Moment seiner Erziehungskonzeption und eben derer Inhalte. Denn immer ging es Wichern, und hier unterschied er sich zumindest auf der sprachlichen Ebene nicht von August Hermann FranckeWP, darum, den gottfernen Eigenwillen – die „verderbte Natur“, den „alten Adam“ – in den Kindern und Jugendlichen zu brechen und sie einem neuen Leben zuzuführen.8
Von der ersten Anstellung nach dem Studium an bemühte sich Wichern um Kontakte zu solchen wohlhabenden Familien der Hamburger Oberschicht, die ihn aus ihrer christlichen Glaubensmotivation heraus unterstützen konnten. Mit deren Hilfe gelang Wichern bereits ein Jahr später, 1833, er war jetzt 25 Jahre alt, die Gründung des Rauhen Hauses. Von Anfang an lag es in seinem Interesse, seine Einrichtung möglichst unabhängig von staatlichen Einflüssen, also von Zuschüssen, zu wissen. Umso mehr gelang es ihm, seiner eigenen Überzeugung treu zu bleiben und seine Anliegen zu verwirklichen. 1839 erweiterte Wichern das Rauhe Haus um das „Brüderhaus“ als Ausbildungsstätte für den Ev. Verein der „Inneren Mission“, damit auch zugleich um die erste, und um eine bis heute bestehende, sozialpädagogische Ausbildungsstätte in Deutschland.
Wichern und die Menschen, für die er sorgen wollte
In erster Linie stand für Wichern fest, und das wird weiter unten noch erweitert belegt, dass das „innere Verderben die Ursache auch des äußeren Verderbens ist“.9 Die Hauptursache für Armut und andere Soziale Probleme lag nach Wichern daher im „immer zunehmenden Sittenverderben des Volks, das einzig und allein aus der herrschenden Irreligiösität, der Verachtung des wahren Christentums und dem gottlosen Unglauben entsteht“.10 Von seinen christlichen, biblisch begründeten Vorstellungen von Ehe und Familie her urteilend sah Wichern denn auch in den zerrütteten Familienverhältnissen des Proletariats eine Ursache des Verderbens.
„Aus diesen Familienverhältnissen (die Eltern haben oft keine Hausstände) geht zuallermeist das Geschlecht der sogenannten verwahrlosten Kinder, deren Zahl sich zu immer mehreren Tausenden steigert, hervor, hier ist die Pflanzschule des faulenden Proletariats, in dessen Behausung zugleich die weibliche Prostitution ihre erste Pflege, die Summe aller Laster und unbändiger Lust ihren Sammelplatz und das zahlreiche Verbrechen seine unmittelbare Vorschule findet.“11
Wichern spricht in der Folge konsequenterweise von der „Entartung der untern Volksklassen“.12 Der Erklärungsansatz für Armut bei Wichern ist also individualisierend: der Einzelne ist verantwortlich für das, was er aus seiner Lage macht. Und andererseits moralisierend: denn wenngleich arm sein an sich noch keine Sünde ist, so ist es doch moralisch verwerflich, sich in dieser Armut auch noch gänzlich sittenwidrig zu benehmen. Dieser Sittenwidrigkeit wollte Wichern mit seinem Rauhen Haus begegnen.
Während Wichern also einerseits im Hinblick auf die soziale Frage den einzelnen verantwortlich machte und seine Kräfte mobilisieren wollte, sah er je länger je mehr auch die Verantwortung der Politik. Er forderte nachdrücklich die „Besserung der politischen Gesetzgebung und der Fürsorge des Staates für die sozialen Verhältnisse des Volkslebens als wesentliche Voraussetzung“ für ein erfolgreiches Wirken der Inneren Mission (1847). Er verlangte ein Eingreifen des Staates in die sozialen Verhältnisse: „Hier eröffnet sich das ganze Gebiet der großen staatswirtschaftlichen Fragen, die sich auf geistige und ökonomische Verhältnisse der Bevölkerung beziehen“. Er forderte die Untersuchung der Ursachen der Massennot und Vorschläge zur Beseitigung der Probleme ein.
Ehrungen
- Er wurde Namensgeber für die Wichernstraße in Münster
Einzelnachweise
- 1 Martin Gerhardt: Johann Hinrich Wichern, ein Lebensbild. Jugend und Aufstieg, 1808–1845. Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg 1927, DNB 365953741, S. 112.
- 2 Ferdinand Sander: Wichern, Johann Hinrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Band 42, Duncker & Humblot, Leipzig 1897, S. 775–780.
- 3 Gerhard K. SchäferWP (Hrsg.): Mein liebster Heini – Meine herzensliebe Amanda. Amanda und Johann Hinrich Wichern – Briefe in Auswahl 1837–1857. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2023, ISBN 978-3-525-45924-9.
- 4 S. Borée: Amanda Wichern. S. 7.
- 5 „Diejenigen, welche wußten, wie die Sachen standen, sahen das drohende Ungeheuer heraufziehen, und jetzt hat sich das Ungewitter der kommunistischen Revolution entladen. […] Was die neueste Entwicklung […] ans Tageslicht gebracht mit dem sittlichen Anhang, das hat unser unterster Pöbel seit vielen Jahren gehabt und ausgeübt. […] Daraus erklärt sich die Revolution. Diese kommunistischen, diese allen gesunden politischen und sittlichen geschweige christlichen Grundsätzen zuwiderlaufenden Ansichten hängen sich an jene […] Afterphilosophie; und schnell sind sie als Motiv zur Revolution verstanden worden von jenen Massen, die sich erhoben haben.“ Zitiert nach: Wichern, Johann Hinrich – Rede auf dem Wittenberger Kirchentag
- 6 Vgl. die einschlägigen kommentierten Schriften Wicherns: Wichern, Sämtliche Werke. Band 7. Siehe auch Wichern, Johann Hinrich
Gustav von Rohden: J. H. Wichern und die Preußische Gefängnißreform. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. 26 (1906), S. 189–216.
Hanns Wolff: Der Gedanke einer Strafvollzugsreform bei Wichern. Diss. jur., Bonn 1952.
Thomas Nutz: Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775–1848. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-56578-8, S. 364–366.
- 7 Christine Auer: Geschichte der Pflegeberufe als Fach. Die Curricular-Entwicklung in der pflegerischen Aus- und Weiterbildung. Dissertation Heidelberg. Eigenverlag, Heidelberg 2008, S. 128. Zitiert vor allem nach: Volker Herrmann (Hrsg.): Zur Diakonie im 19. Jahrhundert. Überblicke, Durchblicke, Einblicke (= Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Ruprecht-Karls-Universität HeidelbergWP, DWI Info, Sonderausgabe, Bd. 6). Diakoniewissenschaftliches Institut, Heidelberg, 2005, ISSN 1612-0388, DNB 982089996, S. 130.
- 8 Wichern, Sämtliche Werke, Band 4/1, S. 119.
- 9 Wichern: Sämtliche Werke, Band 4/1, S. 205.
- 10 Wichern: Sämtliche Werke, Band 4/1, S. 17.
- 11 Wichern: Sämtliche Werke, Band 1, S. 253.
- 12 Wichern: Sämtliche Werke, Band 4/1, S. 104.
Weblinks
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